Die französische Streikkultur

 Was ist im heutigen Frankreich von der französischen Revolution übrig geblieben? Könnte es die Streikkultur sein? 

Wenn man sich die Frage stellt, was vom revolutionären Geist der Franzosen und Französinnen heute noch übrig geblieben sein könnte, fallen manch einem die auffällig vielen Streiks in dem Land auf. In der nahen Vergangenheit kam es mit den Studierendenprotesten 2006 und den Protesten gegen die angestrebte Rentenreform 2010 immer wieder zu Blockaden und Aufständen aus der Bevölkerung. Nicht zuletzt das Jahr 2019 war stark von Berichterstattungen über die Gelbwestenproteste, die zu regelrechten Straßenkämpfen ausarteten, geprägt.

In Frankreich wird häufiger gestreikt, als in Deutschland.

. Es ist nicht unüblich, sich in die gesellschaftlichen und politischen Konflikte aktiv auf der Straße miteinzubringen, weswegen oft von einer Streikkultur in Frankreich gesprochen wird. Eine Ursache dafür liegt bei der französischen Verfassung. Denn im Gegensatz zum deutschen Gesetz, das Streiks nur dann erlaubt, wenn sie im Rahmen von Tarifverhandlungen und gewerkschaftlich organisiert stattfinden, ist die französische Verfassung deutlich streikfreundlicher. Französische Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen haben ein individuelles Streikrecht, das sie ohne Verbindung zu einer Organisation und auch über den arbeitsrechtlichen Bereich hinaus, bspw. für politische und solidarische Zwecke, wahrnehmen können. Da keine gewerkschaftlichen Organisationen in diesem Bereich rechtlich notwendig sind, haben die Gewerkschaften in Frankreich weniger Mitglieder, was Verhandlungen zwischen Arbeitgebern*innen und -nehmern*innen in der Regel schwierig gestaltet. So wird oft erst gestreikt und im Anschluss daran verhandelt.

Die entsprechenden Gesetze sind durch die Grundlagen der Französischen Republik geprägt. Nach Jean-Jaques Rousseau, dessen Ideen die Französische Revolution stark beeinflussten und im Anschluss die entstehende Republik mitbegründeten, ist der Staat direkter Ausdruck und Repräsentant der Bürger*innen. Vermittelnde Instanzen wie Gewerkschaften werden in seiner Lehre dabei eher als hinderlich angesehen, weswegen Verbände dieser Art noch bis ins Ende des 19. Jahrhunderts verboten waren.

In der modernen französischen Gesellschaft findet man eine stärkere politische Polarisierung und Ideologisierung vor, als man es aus Deutschland gewöhnt ist. Auch im europäischen Vergleich zeigen Ergebnisse der European Value Survey auf, dass in Frankreich eine stärkere Angst vor Macht- und Identitätsverlust des Landes besteht. Die politische und wirtschaftliche Souveränität soll unter Beibehaltung des Bekannten und Verhinderung von strukturellen Veränderungen aufrechterhalten werden. So wird das Streiken in Frankreich von einigen Gesellschaftswissenschaftlern sogar als Teil der politischen Kultur des Landes, die als solche auch in der Gesellschaft akzeptiert wird und Unterstützung findet, eingestuft.

Findet sich in der Streikkultur also heute noch der revolutionäre Geist der Franzosen und Französinnen wieder? Einerseits ist die Gesetzgebung, die die vermehrten Streiks ermöglicht, durch die Ideen der Revolution geprägt. Rousseaus revolutionäre Gedanken haben das 18. Und 19. Jahrhundert also überlebt. Andererseits stellen sich die Franzosen und Französinnen  in ihren Streiks größtenteils gegen geplante Veränderung, anstatt diese, wie in der Revolution, anzustreben. Der Fokus liegt auf dem Bewahren des Alten und verhält sich somit konträr zu den Zielen der einstigen Revolutionäre.